Mensch rein, Mensch raus. Es waren keine Menschen, welche er mit seinem Blick wahrnahm. Schatten waren es, einfache Schatten, ohne Substanz. Keine Farben, keine Körper, keine Persönlichkeiten, einfach nur langweilige Umrisse.
Tür, Glöckchen, Glöckchen, Tür.
Schatten, die sich mal sicher, mal unsicher ein und aus begaben. Noch zwei Minuten zuvor hatte ihn diese Tür nicht interessiert. Doch vor zwei Minuten und mittlerweile fünfundvierzig Sekunden war auch SIE noch nicht, durch ebendiese Tür verschwunden. Er versuchte die Frau als inneres Bild präsent zu halten. Ihr blaues Kleid mit unzähligen weissen, kleinen Tupfen darauf, so eng beieinander, dass es ihn an Pop Art erinnerte. Eine Perlenkette, die von zwei unauffälligen Perlohrringen begleitet wurde. Tiffany, an der 5th Avenue, hätte seine Freude daran gehabt. Trotz der Perlen war sie kein Audrey Typ. Sie hatte rotes, lockiges Haar, dass ihr bis zur Rückenmitte reichte. Soweit er sich erinnern konnte, waren ihre Fingernägel in einem leuchtenden Rot lackiert.
Um ihn herum ging das Leben weiter. Bis es zu ihm durchdrang, hatte es sich in ein dumpfes Rauschen verwandelt. Einzig das Gefühl ihrer Berührung spürte er noch klar und deutlich. Es war ein sanfter und kurzer Körperkontakt gewesen. Sie hatte lediglich ihre Hand, für einen Augenblick auf seinen Unterarm gelegt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Innerlich schien er immer noch die Worte ihrer kurzen Unterhaltung niederzuschreiben. Stetig und ununterbrochen. Und so füllte sich sein Inneres mit ihrer Stimme, Zelle für Zelle.
Der Dame einfache Bitte:
„Entschuldigen Sie, wären Sie so freundlich, mir den Zucker zu reichen?“
Während er ihr den Zuckerspender gab, erwiderte er leicht stolpernd:
„Ja, gerne“. Dabei huschte ihm ein Lächeln übers Gesicht. Kühl und trocken, bei Champagner ein absoluter Jahrgangsbrut, bei Gabriel die Spiegelung seiner inneren Unsicherheit.
Von ihr bekam er ein freundliches:
„Danke sehr!“
Seine Gegenleistung war ein distanziertes, von Scheu durchzogenes:
„Bitte“.
Dies war der einzige verbale Austausch zwischen ihnen gewesen. Nebeneinander an der Theke des kleinen Bistros und doch beide allein. Er war täglich hier. Sie das erste Mal.
Danach schaute er sie immer wieder an. Nicht direkt. Er benutzte dafür den Spiegel an der Wand. Jemand hatte einen grossen Spiegel mit schlecht gefälschtem, antikem Rahmen über die 3-Kolben-Espressomaschine gehängt. Optisch ein Fauxpas, als Medium perfekt! Gabriel war kein versierter Beobachter. Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis sie seinen Blick erhaschte. Ein einziges Mal, als sie ebenfalls aufblickte, kurz und ohne Absicht, gerade so lange wie der Flügelschlag eines Kolibris. Eine Viertelstunde später bezahlte sie ihren Cappuccino, verliess das Lokal und drehte sich nicht mehr um. Während sie auf die Tür zugegangen war, hatte er ihr nachgeschaut, gehofft, sie möge sich zu ihm umdrehen. Dieser Bestätigungshunger war ungestillt geblieben.
Tür, Glöckchen, Glöckchen, Tür.
Gabriel wandte sich endlich ab. Er strich mit einem Hauch Verlegenheit seine Zeitung glatt, dann schob er die gebündelte Nachrichtenanhäufung beidhändig von sich. Ein Schatten war zu einem klaren Wesen geworden und hatte sich auf den Hocker neben Gabriel gesetzt. Wie ein weit entfernter Wasserfall nahm Gabriel das Stimmengewirr im Lokal wahr. Genau in dem Augenblick, in dem er dies bemerkte, schnellte das Volumen hoch. Die Stimmen drangen jetzt lauter und klarer an sein Ohr, wurden zu dem, was sie immer gewesen waren: einfach nur Stimmen in einem Bistro. Dann, plötzlich und unvorbereitet, traf ihn ein Gedanke wie eine Explosion!
Die Stimme! Ihre Stimme! Erst jetzt bemerkte Gabriel, dass er sich nicht an ihre Stimme erinnerte.
Der Herr, der jetzt neben ihm sass, atmete schwer. Sicher wegen seiner korpulenten Figur. Gabriel begann, Geräusche gedanklich abzurufen. Alles was ihm gerade einfiel. Grillenzirpen, Windrauschen, Espressomaschine, Strassenbahn und was ihm sonst noch in den Sinn kam. Ihre Stimme hatte jedoch nur eine leere Rille in seiner Erinnerungsplatte hinterlassen.
Er bestellte, eher aus Einfallslosigkeit als Lust, einen Orangensaft. Ab und zu blickte er zur Tür. Was wäre das für ein Zufall, wenn sie zurückkäme? Vielleicht würde er sie morgen wiedersehen? Obwohl er jeden Morgen hierherkam und sie noch nie gesehen hatte. Oder hatte er sie einfach nur übersehen? Das Schicksal hatte es heute vielleicht gut mit ihm gemeint. Wann hatte er denn das letzte Mal einer Frau nachgesehen, ohne sich für ihren Po zu interessieren? Lange her. Er nahm einen Schluck seines Orangensaftes.
Das Wort Schicksal schwirrte mit Nachdruck in seinen Gedanken. Fragen über Fragen um dieses Wort reihten sich aneinander. Er gab sich dem hin, denn sich dagegen zu wehren hätte nichts gebracht. Das Gegenteil wäre eingetreten. Dieses eine Wort hätte sich eingebrannt und ihn für lange Zeit nicht mehr losgelassen. Gabriel liess sich in ein Gedankennetz fallen, welches sich um dieses Wort Schicksal spann. Wie klebrige Fäden kamen Zufall und Bestimmung dazu. Sollte er jetzt immer um die gleiche Zeit hierherkommen? Entgegen seiner Gewohnheit, jeden Tag um eine andere Zeit seinen Kaffee zu geniessen. Wäre es dann Zufall? Wird der Zufall dann Schicksal? Das Schicksal irgendwann Bestimmung? War es einfach nur eine Frage, an was er glaubte? Dann war es heute Zufall?
Gabriel versuchte sich den heutigen Tag, seit dem Moment in dem er in die Strassenbahn gestiegen war, in Erinnerung zu rufen. Obwohl etliche Sitzplätze frei gewesen waren, hatte er sich entschieden zu stehen. Bis zur Haltestelle unweit des Bistros waren es sieben Haltestellen. Die Strecke kannte er auswendig und er blickte gedankenverloren aus den Fenstern der Bahn. Menschen, Autos, Vögel, Hunde und was sonst noch draussen vorüberzog, interessierte ihn. Er schaute einfach alles an und machte sich seine Gedanken. Ein Plakat war ihm besonders aufgefallen. Das „Roxy“, eine Jazzlounge, plante für diesen Samstag seine Wiedereröffnung nach einem dreimonatigen Umbau. Spontan hatte Gabriel entschieden hinzugehen. Jazz, dass war seine Musik. Diese Erinnerung holte ihn an die Theke zurück. Was wäre, wenn die vorher neben ihm sitzende Dame auch ins „Roxy“ gehen würde? War es Zufall gewesen, dieses Plakat zu sehen? Natürlich wäre es ein Zufall, dachte er sich. Was wäre, wenn sie einen Mann hatte und mit ihm da sein würde? Schicksal? Vielleicht auch Bestimmung, falls sie mit ihren Freundinnen das „Roxy“ besuchte und er dadurch ihre Bekanntschaft machen dürfte.
Sie hätte aber nicht nach dem Zucker fragen können, wenn er ausgerechnet heute ins „Starbucks“ gegenüber gegangen wäre. Er hätte ihre Berührung nie wahrgenommen. Kein Lächeln, kein Danke von ihr. Gut, im „Starbucks“ hätte er aus Prinzip einen Tee getrunken statt eines Kaffees. Dies hätte die Situation nicht verändert, oder doch?
War denn dies alles ein trivialer Zufall?
Falls der schwer atmende Herr neben ihm in diesem Augenblick, einen Herzinfarkt erleiden würde, wäre dies denn Zufall, Schicksal oder Bestimmung, dass er, Gabriel, Anwalt und nicht Arzt war? Das nennt man doch eher Pech, nicht? Wieso sass er immer noch hier? Entgegen seiner Gewohnheit hatte er sich als Erstes eine heisse Schokolade bestellt, statt des üblichen morgendlichen Espressos. Warum? Hatte das Schicksal seine Wahl bestimmt? Damit er länger hier blieb? Vielleicht war es jedoch einfach nur der Zufall gewesen, der seinen Blick auf die Getränketafel gelenkt hatte und ihn die darauf angepriesene „Heisse Schokolade mit Zimt“ bestellen liess. Der Gedanke, dass die Person, die heute Morgen die Tafel beschrieben hatte, sein Schicksal bestimmte, durchfuhr ihn.
Während des Zeitunglesens hatte er sein Getränk vergessen. Erst nach der Berührung der Dame hatte er den ersten Schluck probiert, vielleicht auch um sich selbst abzulenken. Was, wenn er diesen ersten Schluck sofort genommen hätte, gerade als die Dame sich neben ihn setzte? Die Schokolade wäre noch heiss gewesen und er hätte sich vielleicht die Lippen daran verbrannt. Vielleicht hätte er welche auf seinen Anzug geschüttet oder auf sein weisses Hemd. Gabriel trug nie Krawatten, er mochte den sanften Griff von Halstüchern. Wenn dies alles geschehen wäre, wie hätte die Dame neben ihm reagiert? Schicksalhaft?
Gabriel überlegte, wo die Dame sich in diesem Moment befinden könnte. Vielleicht in einer Strassenbahn? Was, wenn sie genau jetzt das Fehlen ihrer Handtasche bemerkte? Andererseits, welche Frau vergisst ihre Handtasche? Wenn, dann eine schusselige. Doch genau das fand er im richtigen Mass sexy. Trotzdem zweifelte er kurz an ihr. Er lehnte sich leicht zurück und spähte auf seine rechte Seite, um zu sehen, ob vielleicht doch eine Tasche am Haken unter der Theke hing. Auch wenn dies so wäre, hätte sie der Mann, der jetzt dasass, sicher längst bemerkt. Was hätte er getan? Reingeschaut? Vielleicht per Zufall gleich ihre Adresse gefunden? Sie angerufen und sich mit ihr für die Übergabe verabredet? Das Schicksal hätte vielleicht aus diesen zwei Menschen ein Paar werden lassen. Zufällig, aber aus Bestimmung zusammengebracht.
Jedoch hätte der Herr die Tasche auch dem Personal aushändigen können. Dann hätte jemand vom Bistro angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie die Tasche im Lokal abholen könne. Das am ehesten Zutreffende war sicher, dass die Dame es selbst bald bemerkte und zurückkam, bevor jemand sie anrief. Dann wäre es durch einen Zufall vielleicht dem einzigen Kellner zugefallen, ihr die Tasche auszuhändigen. Ein Lächeln, wie es nur Damen in einer solchen Situation gelingt, hätte ihr Gesicht gestreichelt. Was hätte in diesem Augenblick den Kellner davon abhalten können, sich in diese Freude zu verlieben? Nichts.
Zufall, Schicksal oder Bestimmung?, schoss es Gabriel durch den Kopf.
Und was wäre, wenn sie genau beim Einsteigen in die Strassenbahn gemerkt hätte, dass sie ihre Tasche vergessen hatte? Erschrocken darüber hätte sie sicher einen Schritt zurück gemacht. Vielleicht einen kurzen, lauten Schrei ausgestossen. Dabei vielleicht eine andere Frau hinter sich umgestossen. Diese wäre hingefallen und hätte sich den Kopf auf der Bordsteinkante aufgeschlagen. Jemand hätte sofort die Ambulanz angerufen. Auf dem Weg ins Krankenhaus wäre diese Frau unter Umständen ins Koma gefallen. Monate darauf wäre sie gestorben und hätte zwei kleine Mädchen, einen Ehemann, eine Katze, einen Hund und zwei Koi hinterlassen. Ihr Mann hätte während ihres Krankenhausaufenthaltes die behandelnde Ärztin kennengelernt. Wer weiss, was aus ihnen geworden wäre? Niemand hätte je erfahren, dass dies alles wegen einer Handtasche passiert ist. Wegen einer Damenhandtasche wohlgemerkt. Zufall, Schicksal oder Bestimmung?
Tür, Glöckchen, Glöckchen, Tür.
Gabriel nahm den letzten Schluck seines Getränkes, während er mit der anderen Hand gleichzeitig die Geldbörse aus der Jackentasche hervorzog. Im selben Augenblick erreichte ihn eine Stimme von rechts.
„Einen Cappuccino, bitte.“
Die Dame hatte sich in der Zeit geirrt. Also doch schusselig. Deswegen war sie viel zu früh aufgebrochen und statt lange darüber nachzudenken, war sie zurückgekommen.
Übrigens heisst sie Regina, genannt Gina, ist ledig, möchte einen Hund, steht weder auf Fische noch auf Katzen und denkt manchmal über eigene Kinder nach. Durch Zufall in ihr Schicksal geschlittert, dessen Bestimmung vor langer Zeit begonnen hatte.
Und Gabriel? Gabriel schaute die Dame fasziniert an. Als sie seinen Blick, im Spiegel über der Kaffeemaschine kreuzte, schaute er nicht weg. Er lächelte und schob sachte den Zuckerspender nach rechts.
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